Die Badische Zeitung hat am 22.7.2016 die Ergebnisse einer Umfrage unter 6 Teilnehmern des Leitbild-Prozesses veröffentlicht: Link
Wir danken der BZ für diese Berichterstattung. Vier der Befragten haben nun fairNETZt gestattet, den kompletten Wortlaut abzudrucken. Damit möchten wir einen vertieften Einblick in die Erkenntnisse aus dem Prozess geben – gewonnen von Menschen, die sich intensiv beteiligt haben im Glauben und in der Erwartung, das Leitbild würde für die Stadtregierung mehr als ein Impuls, den man anerkennen will.
1. Wie haben sie den Ablauf empfunden?
Lydia Halter
Bereits zu Beginn des Prozesses hat sich gezeigt, dass die Themen so vielfältig und zugleich komplex waren, dass es in den Veranstaltungen wie der Ideen-Werkstatt, der Online Beteiligungsphase und den Redaktionssitzungen, an denen ich ebenfalls beteiligt war, nicht möglich war, zu jedem Thema eine qualifizierte Diskussion zu führen. Das ist schade, da so einige wichtige neue Ideen und mögliche Ziele / Maßnahmen aus Zeitgründen nicht genügend erläutert werden konnten und dann auch nicht berücksichtigt wurden. Stattdessen hat sich herausgestellt, dass vor allem altbekannte Streit-Themen wie z.B. Tempo 30 ausgiebig diskutiert wurden.
In der Redaktionssitzung hatten wir dann pro Ziel ca 1 Minute Zeit, um es zu konkretisieren oder umzuformulieren. Das war natürlich utopisch – in einem Team aus 12 mehr oder weniger zufällig ausgewählten Teilnehmern, die vorher noch nie zusammen gearbeitet hatten.
Philipp Bachmann
Ich hielt dieses Projekt für sehr spannend und habe mich gerne beteiligt. Das Beste waren m. E. die Zukunftspostkarten gleich zu Beginn der Zukunftswerkstatt. Ich empfand den Zeitplan als sehr ambitioniert. Ich hatte den Eindruck, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Stadtverwaltung den Prozess engagiert fast rund um die Uhr begleitet haben. Die Rathausspitze zeigte aktiv mit vielfältigen Angeboten Präsenz, um alle möglichen Bevölkerungsgruppen mit einzubeziehen.
Isabell Schäfer-Neudeck
Ich habe es sehr begrüßt, dass sich der Gemeinderat einstimmig für einen Leitbildprozess entschieden hat und dies als Signal für eine ernsthafte Bürgerbeteiligung gewertet. Jedoch habe ich mich im Verlauf des Prozesses mehrfach gefragt, ob denn die Bürgermeinung wirklich gewünscht ist. So kamen z.B. Terminankündigungen recht kurzfristig und der Prozess war häufig unklar.
Insgesamt war der Prozess sehr zeitaufwändig und eng geführt, d.h. zu viele Vorgaben; der Online-Prozess war hingegen gar nicht moderiert, starr und unflexibel. Einige konstruktive Eingaben wurden übergangen (bspw. Querschnittsthemen in Vertiefungsworkshops).
Insbesondere die 2. Onlinephase war nicht mehr einladend, man hat sich schier im Internet verloren.
Insgesamt zuviel Show, zu wenig Interaktion; zuviel Hochglanz, zu wenig Konkretes.
Lutz Knakrügge
2. Was halten Sie vom Ergebnis? Bzw. dem Leitbildentwurf?
Lydia Halter
Der Rahmen, in dem die Themen mit den Teilnehmern diskutiert wurden, war sehr eng gesteckt und ließ nicht viel Spielraum, sich mit den eigentlichen Inhalten zu beschäftigen. Vielmehr hatte ich bei einigen Themen den Eindruck, dass Inhalte stark in den Hintergrund gedrängt wurden und es mehr um Neu-Formulierungen ging als um konkrete Inhalte. Und dann waren die Zielformulierungen oft noch schwammig und einfach unkonkret.
Zum Glück gab es dazu noch diverse Workshops von fairNETZT (z.B. im Werkraum Schöpflin) und Treffen von der Gemeinwohl-Ökonomie Regionalgruppe Lörrach, wo wir die Themen umfangreicher diskutiert haben und wo auch mal über den Tellerrand hinaus gedacht wurde.
Ich halte den Leitbildentwurf für einen kleinen Schritt in die ungefähr richtige Richtung – wenn er denn auch mit gesundem Menschenverstand umgesetzt wird, und nicht einfach nur versucht wird, die sehr offen gehaltenen Ziele rein formell umzusetzen.
Philipp Bachmann
Ich empfinde die Zielformulierungen als zu knapp. Viele Zielvorgaben verweisen zwischen den Zeilen auf Defizite in der Gegenwart. Ich hätte mir eine Formulierung gewünscht, die diese heutigen Probleme explizit benennt und dann dialektisch eine Lösungsmöglichkeit aufzeigt, etwa im Sinne der sog. Muster des Architekten Christopher Alexander. Nur so wären sie in einigen Jahren noch verständlich und würden nicht als Allgemeinplätze empfunden.
Das Leitbild weicht in seiner Schwerpunktsetzung leider stark von den Ergebnissen der ersten Beteiligunsphase ab – ich hatte den Eindruck, dass Familienfreundlichkeit das Thema der ersten Phase schlechthin war, gefolgt von der Überwindung der trennenden Wirkung der Bahn. Ersteres spielt leider nun offenbar nurmehr eine untergeordnete Rolle. Während der zweiten Beteiligungsphase wurden die Beteiligungsmöglichkeiten m. E. gegenüber der ersten eingeschränkt, so dass diese Verschiebung durch Bürgerinnen und Bürger nicht mehr korrigiert werden konnte.
Ich denke, dass die Stadtverwaltung aus Rücksichtnahme auf zu erwartende Kritiker im Gemeinderat abgelehnt hat, die Ziele in messbarer Form zu formulieren. Dies finde ich ausgesprochen schade, und diese Rücksichtnahme hat offensichtlich auch leider nichts genutzt.
Isabell Schäfer-Neudeck
Für mich ist das Ergebnis trotz den 83 ‚Zielen‘ zu wenig konkret – und es bleibt unklar, wie sich jetzt aus den Zielen die nächsten Schritte/Maßnahmen ableiten.
Wie wird die Zielerreichung gemessen? Wie sieht ein Monitoring aus, das ja bereits auf den nächsten LB-Prozess hinwirkt?
Wichtige Querschnittsthemen (CO2-neutrale Stadt, soziale Stadt, bürgerbeteiligte Stadt) wurden rausgenommen, weil sie nicht in die vorgegebene Struktur passten – oder nicht willkommen waren? – hier hatte ich zumindest einen Diskurs erwartet.
Lutz Knakrügge
- Das Wahrnehmen einer Lenkungsfunktion durch die Gemeinde im Sinne von ethischem, gemeinwohlorientierten Wirtschaften fehlt ganz –
- ein positives Statement zu „Lörrach wird Gemeinwohl-Gemeinde“ stünde uns auch gut zu Gesicht denke ich.
- und auch die Verankerung von Bürgerbeteiligung ist kaum wahrnehmbar.
- Insbesondere sollte eine Institutionalisierung von Bürgerbeteiligung in Lörrach vorangetrieben werden – das kann man aus allen Debatten (auch der des Gemeinderats, wie ich in der BZ und im Der Sonntag lese) ein Ziel für Lörrach werden. Man könnte hier durchaus eine „Konventkultur“ entwickeln: zu konkreten Themen werden interessierte Bürger / Kreise eingeladen ein Konzept zu erarbeiten.
3. Was denken Sie, wie es weitergehen wird?
Lydia Halter
Ich hoffe, dass mit dem neuen Leitbild einige sinnvolle Maßnahmen ergriffen werden, aber ich hoffe auch, dass ganz allgemein das Bewusstsein der Menschen für unsere Umwelt und die Art, wie wir miteinander leben wollen, geschärft wird und auch jeder einzelne für sich selbst überlegt, wie er zu einer lebenswerten Zukunft beitragen kann.
Ich habe am Anfang mit großer Begeisterung mitgewirkt, mich aber dann leicht demotiviert zurückgezogen, weil ich gemerkt habe, dass die Diskussionen zu wenig tief gehen; dass einerseits viele Menschen noch nicht bereit sind, altbekannte Muster zu durchbrechen, um wirklich eine Veränderung herbeizuführen, und andererseits der Handlungsspielraum durch politische Rahmenbedingungen stark eingeschränkt ist. Wie oft habe ich den Satz gehört: „Ich persönlich finde die Idee gut, aber in meiner Partei / dem Gemeinderat / der Bevölkerung etc kommt das nie durch…“
Philipp Bachmann
Diese Haltung unserer gewählten Vertreterinnen und Vertreter produziert mehr Schaden als Nutzen: Dass der Gemeinderat mehrheitlich nun offenbar das Leitbild nur zur Kenntnis nehmen will, das er zuvor selbst beauftragt hatte, weil ihm mancher Inhalt nicht gefällt, wird die intrinsisch motivierten Bürgerinnen und Bürger nachhaltig demotivieren – da wäre es besser gewesen, wir Bürgerinnen und Bürger wären erst gar nicht gefragt geworden.
Die nach der Brexit-Abstimmung wieder stärker gewordene Stimmung gegen direkte Demokratie scheint auch dem Lörracher Leitbild den Rest gegeben zu haben. Ich glaube, dass es sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, bis Bürgerbeteiligung funktioniert; dies kann aber kein Argument dafür sein, das zarte Pflänzchen im Keim zu ersticken.
Weil die Verwaltung viel dafür getan hat, einen breiten Querschnitt der Bevölkerung zu erreichen, werte ich das formale Argument mangelnder Repräsentativität als vorgeschoben für inhaltliche Kritik. Viele Zielvorgaben sind so vage formuliert, dass sie ohnehin von der Realität überholt werden. Den grössten Verlust durch die mehrheitliche Haltung des Gemeinderats sehe ich daher in der nachhaltigen Demotivation der Bürgerschaft.
Die Beteiligung wird nun einerseits fachbereichsspezifisch weitergehen, z. B. wird zum Masterplan Mobilität auch ein Kulturkonzept kommen, andererseits haben wir Bürgerinnen und Bürger im Werkraum Schöpflin glücklicherweise eine Platform gefunden, die den allumfassenden Beteiligungsprozess weiterführt.
Isabell Schäfer-Neudeck
Wenn man ein solches LB erstellt und es dann zu den Akten gelegt wird, wäre dies ein Schlag vor den Kopf der beteiligten BürgerInnen. Hier hatte ich gehofft, dass es diesmal besser laufen würde, auch wegen der Versprechen zuvor im Wahlkampf und bei den Veranstaltungen. Damit würden die bestraft, die sich eingebracht haben, und die Unbeteiligten belohnt – der Dolchstoß für die Bürgerbeteiligung. Es sollte doch gerade ein Anreiz sein, damit sich beim nächsten Mal mehr Bürger beteiligen.
Lutz Knakrügge
Nur „zur Kenntnis nehmen“ käme ignorieren gleich – das kann sich der Gemeinderat den Bürgern gegenüber nicht leisten. Ich schätze (nach Lektüre der Berichte aus der Sitzung vom 14.7.) dass man das Leitbild als Leitfaden akzeptieren wird. Wünschenwert fände ich, wenn dies als Startschuss für die nächste Bürgerbeteiligungsrunde aufgefasst wird: Bilde einen Konvent, der sich mit der Ausformulierung, Finanzierung und Priorisierung der Leitbildvorschläge befasst. Hierbei sollten auch die ursprünglichen Vorschläge wieder aus der Schublade geholt werden – wie es ja auch unser OB Lutz auf der Präsentation des Leitbildentwurfs zugesagt hat.
4. Haben Sie Verbesserungsvorschläge?
Lydia Halter
Ich fand zwar den Ablauf nicht optimal, andererseits kann und soll so ein Prozess ja auch nur die Plattform und den Rahmen bieten. Es wäre eventuell sinnvoll, nicht in einem Hauruck-Verfahren innerhalb kurzer Zeit ein komplettes Leitbild erstellen zu wollen, sondern laufend die Ziele und Maßnahmen zu hinterfragen und anzupassen und eine Bürgerbeteiligung jederzeit und unbürokratisch möglich zu machen. Ich bin z.B. ein großer Fan der Stadt Murg, wo dies bereits vorgelebt wird.
Philipp Bachmann
Mehr Mut!
Ich hätte mir gewünscht, dass die offene Phase der Zukunftspostkarten viel länger angedauert hätte. Stattdessen wurde schon im Verlauf der Zukunftswerkstatt und bei der Eröffnung der Online-Platform der ersten Beteiligungsphase schnell klar, dass sich die Stadtverwaltung ebenfalls inhaltlich stark einbringt – und dabei von vornherein im Vorteil ist, weil sie schnell und gut vorbereitet agiert und ihr mehr Ressourcen zur Verfügung stehen als uns Laien. Dies hat m. E. wesentlich dazu beigetragen, dass dem Leitbild eine übergreifende Vision fehlt; die nachträglich hinzugefügte Präambel kann die fehlende Vision m. E. leider nicht ersetzen.
Die Online-Platform war schrecklich – insbes. in Phase 2, wo man nichts mehr sortieren lassen konnte nach Likes und Anzahl an Kommentaren. In Phase 1 konnten Interessierte die einzelnen Vorschläge liken und kommentieren – fürs nächste Mal schlage ich ein ausgewogeneres Bewertungsschema vor: Entweder einen weiteren „Dislike“-Knopf oder aber die Abschaffung des „Like“-Knopfs und stattdessen die Unterscheidung zwischen einem „Pro“-Kommentarfeld und einem „Contra“-Kommentarfeld.
Es ist nicht immer einfach gefallen, Ziele und Mittel zu unterscheiden; ich hätte mir gewünscht, die Mittel wenigstens als Beispiele zur Zielumsetzung ins Leibild aufzunehmen – ich kann sie jedenfalls nirgends mehr finden.
Isabell Schäfer-Neudeck
Bürgerbeteiligung ist eine kontinuierliche Aufgabe, auf gleicher Augenhöhe, mit gegenseitigem Respekt und Wertschätzung. Und sie muss geübt werden, um sukzessive eine demokratische Kultur aufzubauen. Z.B. durch Methoden, wie sie gerade von der Reihe „Mittendrin statt außen vor“ von fairNETZt und Werkraum Schöpflin vorgestellt werden. Zentraler Punkt ist dabei, sich mit den Bürger_innen, die sich einbringen, anders umzugehen. Für direkte Bürgerbeteiligung werde ich deshalb am Ball bleiben, unabhängig, wie der GR jetzt über das LB entscheidet.
Lutz Knakrügge
Siehe oben – die Konventkultur aufbauen. Bei Onlinetools kenne ich mich zu wenig aus, jedoch sind diese hilfreich, wenn sie aktiv und transparent moderiert sind.